Die Gefahren von Yin Yoga

In diesem Artikel geht es um die Gefahren von Yin Yoga. Er richtet sich an Yogalehrer und Praktizierende. Dies ist kein „Wir hassen Yin Yoga“ oder „Yin Yoga ist schlecht“ Post, auch wenn wir Nachteile und Gefahren beleuchten. Viele im HB-Team mögen Yin Yoga (YY) sehr und praktizieren es neben anderen Dingen.

Gleichzeitig kommen immer wieder Menschen in Sessions und Kurse, die sich durch Yin Yoga Praxis verletzt oder Rückschritte gemacht haben: Sie sind manchmal überbeweglich, körperlich und emotional instabiler oder dauerhaft weniger beweglich (!) geworden.

Dieser Artikel wurde geboren, weil wir über so viele Yin Yoga Artikel gestolpert sind, die sehr einseitig die Vorteile dieser Praxis beschreiben und versprechen:

  • Yin Yoga IST gut für Deine Gewebe-Gesundheit
  • Yin Yoga IST gut für Dein Nervensystem
  • Yin Yoga HILFT DIR, Dich zu entspannen.
  • Du BRAUCHST Yin Yoga (YY), wenn Du gestresst bist“

Auch wenn wir glauben, dass YY super für Gewebegesundheit, Entspannung sein KANN, sehen wir, dass es das nicht immer IST. Es gibt Punkte an denen YY nicht hilfreich ist, sondern sogar schädlich sein kann.

Ja, Yin Yoga kann schädlich sein. Und weil die YY-Praxis häufig an der Schmerzgrenze arbeitet, ist es häufig schwer herauszufinden, wo dieser Bereich beginnt. Deswegen ist es unsere Erfahrung, dass viele Lehrer und Schüler die gesunden Grenzen ihres Körpers übersehen und sich selbst oder anderen schaden.

In der Hoffnung, dass dies weniger passiert, wollen wir in diesem Artikel 2 Behauptungen hinterfragen:

1. Behauptung:
Yin Yoga ist gut für die Gewebs-Gesundheit und Beweglichkeit

Oft wird behauptet:

  • Yin Yoga fördert die Beweglichkeit
  • Lange Dehnungen unterstützten die „Gewebe-Gesundheit“
  • Und helfen dem Gewebe, zu entspannen, sich zu lösen etc.

Was daran stimmt bzw. einen physiologischen Hintergrund hat:

Gelenke, Gewebe und Organe in unserem Körper profitieren von regelmäßiger Bewegung. Dabei brauchen unterschiedliche Gewebearten unterschiedliche Bewegungsarten.
Besonders unsere Faszien brauchen langsames, anhaltendes Dehnen, wenn wir ihre Beweglichkeit/Dehnfähigkeit fördern möchten.

Das heißt: Yin Yoga ist besonders gut für die Gewebs-Gesundheit und Beweglichkeit unserer Faszien.
Diese brauchen:

  1. Wahrnehmung = Spüren der körperlichen Empfindung
  2. Ein Signal vom Nerv(ensystem): Lass los, kein Grund zur Anspannung!

Wann dies nicht stimmt und sogar gefährlich ist:

YY ist gut für Faszien. Doch genau an dieser Stelle wird es schon komplex. Denn wir dehnen niemals nur Faszien: Diese hängen strukturell in sogenannten Myofaszialen Ketten (Muskel-Faszien-Ketten) mit Muskeln und Nerven zusammen.

Diese Gewebe haben teilweise komplett andere Bedürfnisse, Funktionen und Grenzen als Faszien; so unterschiedlich, dass eine reine Yin Yoga Praxis, aus primär gehaltenen Dehnung für genau diese Strukturen gefährlich sein kann.

Die gefährdetste Struktur hierbei sind die Nerven, denn Nerven lassen sich nicht dehnen und sind sehr empfindlich, so dass sie sogar beim Versuch der Dehnung beschädigt werden können.

  • Hattest Du schon einmal scharfen, ziehenden Schmerz in Armen oder Beinen?
  • Kennst Du das kribbelnd-prickelige Gefühl, wenn Dir Arme oder Beine eingeschlafen sind?

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH… dann hast schon mal Deine Nerven gespürt.
Diese teilen Dir auch durch die Art des Schmerzes (scharf-elektrisch) ziemlich klar mit: „Ich will nicht gedehnt werden.“

Wenn wir in einer Yin-Yoga-Dehnstellung sind und aber versehentlich einen Nerv (mit-) dehnen, kann dies nicht nur unangenehm sein, sondern

  • den Nerven reizen und sogar verletzen
  • die Wahrnehmung für diesen Bereich und seine natürlichen Grenzen verändern
  • und zu einer dauerhaften Zunahme von Anspannung kommen, da unsere Muskeln hart arbeiten, um unseren Nerven zu schützen.

Das führt dann z.B. dazu, dass wir am Tag nach dem YY Muskelkater in den Partien haben die wir eigentlich loslassen wollten, oder sich unser Gewebe gereizt anfühlt. Das ist ganz normal und ein Anzeichen, dass wir versucht haben Gewebe zu dehnen, das nicht gedehnt werden will.

(Ein zusätzlicher Punkt, der bei Yin Yoga beachtet werden sollte: YY ist auf Gewebe Dehnung und Lockerung ausgelegt. Wir brauchen zusätzlich auch Gewebe-Kräftigung, grade für schnelle Bewegungen und Kraftaufbau – dies erfordert eine andere Bewegungs-Praxis!)

Was Du in Deiner Praxis anders machen kannst:

Für Dich selbst:  

  1. Lerne die Gewebe zu unterscheidenDies kann einerseits durch anatomisches Hintergrundwissen geschehen, Du kannst Dich aber auch an der Art des Schmerzes orientieren: Wenn Du einen scharfen, elektrischen Schmerz verspürst, eher an einem Strang entlang oder ziemlich punktuell grade um Gelenke, bist Du wahrscheinlich gerade an einem Nerv – dann ist dies ein STOP-Signal und es ergibt Sinn dies zu beachten!
  2. Um mit dem Nerv zu arbeiten, kannst Du an diesen Punkten die sogenannte Nerven-Mobilisation anwenden, um den Nerv in seiner Gleitfähigkeit zu unterstützen, mehr dazu im Video.
  3. Wenn Du einfach Deiner Praxis folgen willst, versuche Deine Position so zu verändern, dass die Dehnung eher flächig wird und sich wie Zug-Schmerz, „Wohlweh, Schmelzen, AAAHHHH“ anfühlt. 

 Als Yoga Lehrer:

  1. Stell Deinen Schülern die beiden Schmerz-Arten vor
    1. Scharf-Elektrisch
    2. Flächig – Wohlweh Schmelzen
  2. Achte auch auf die Gesichter von Schülern:
    1. Nerven-Schmerz zeigt sich meistens im Gesicht, als hätte jemand in eine Zitrone gebissen
    2. Faszien-Schmerz eher wie Schmelzen (AAAAH)
  3. Biete Alternative Haltungen oder die Nervenmobilisation als an, damit Schüler ihre Asanas individuell anpassen können.
    1. Dies kannst Du als Experiment gestalten: „Probier gerne aus, ob es besser für Dich ist das Bein ein bisschen zu bewegen…“

2. Behauptung:
Yin Yoga ist gut für Dein Nervensystem

Eine andere Behauptung über Yin Yoga ist:

  • YY hilft Dir zu entspannen
  • Es aktiviert das parasympathische Nervensystem
  • Durch YY können alte Emotionen sicher gelöst werden

Was daran stimmt:

Das kann genau so sein, so lange wir in uns genug Stabilität haben, auch emotional und auf Nervensystem Ebene (Containment), um mit dem umzugehen, was geschieht.

  1. So lange wir von der Dehnung und dem Ziehen, Ziepen und Schmerzen nicht überfordert werden, kann dies super sein.
  2. So lange wir mit den Emotionen die vielleicht aktiviert werden umgehen können, kann die Praxis helfen uns zu entspannen.

Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann YY eine sehr gute Praxis sein:

  • Sie kann den sogenannten „Relaxation Response“ aktivieren
  • Sie kann zu einer besseren Körperwahrnehmung führen
  • Sie kann durch die Asanas zur Aktivierung des im Sakrum (Kreuzbein) liegenden parasympathischen Nervensystems führen.

Wann dies gefährlich wird:

Sobald die oben beschriebenen Bedingungen nicht mehr erfüllt sind, sprich die Erfahrungen, Körperwahrnehmungen und Positionen zu viel werden, kann die Yin Yoga Praxis schnell das genaue Gegenteil auslösen. Das kann bei traumatisierten oder sehr gestressten Menschen schnell passieren.

Dafür ist es wichtig eine Sache zu verstehen:

Physiologischer Überblick:

Wir haben nicht nur ein ‚parasympathisches Nervensystem’

In vielen Artikeln wird davon gesprochen, dass „DAS Parasympathische Nervensystem“ aktiviert wird.
Das basiert auf einer veralteten Perspektive in der es DAS parasympathische Nervensystem (PNS) gibt. Vor allem in der neueren Traumatherapie wird allerdings zwischen zwei Ästen des PNS unterschieden:

  1. Entspannung (ventrovagaler ‚Bereich’ des PNS, oft grün genannt): Das ist das, was klassisch als der Parasympathikus bezeichnet wurde. Hier handelt es sich um den Zweig des Nervensystems in dem wir entspannen, loslassen, auftanken etc.
  2. Erstarrung / Freeze und Kollaps (dorsovagaler ‚Bereich’ des PNS, oft rot genannt): Dies ist der Bereich, der erst seit ca. 30 Jahren klar erforscht wird und in dem Trauma, Erstarren, Totstellen stattfinden.

Auch wenn die körperliche Reaktion von außen fast gleich aussieht (Muskeln entspannen sich, weniger Bewegung…) ist dies im Körper ein ganz anderer Zustand. Dies ist die Reaktion, wenn unser autonomes Nervensystem glaubt, wir sterben gleich und deshalb unser ältestes Überlebens-Programm startet, nämlich Totstellen, Erstarren, dissoziieren, um uns weniger zu spüren.

Was wichtig zu verstehen ist: Diese Reaktion muss nicht auf eine tatsächlich lebensbedrohliche Situation geschehen. Diese Reaktion kann aus unterschiedlichen Gründen aktiviert werden (bestimmten Gefühlen, Situationen, Bewegungen, Erinnerungen, impliziten Erinnerungen, Bewegungen…).
Vor allem für traumatisierte Menschen (egal ob durch Schock oder Entwicklungstraumata) ist es viel schwerer in den entspannten Bereich zu kommen und viel wahrscheinlicher, dass ein Freeze aktiviert wird.

Zurück zum Yin Yoga:

 

Wenn wir im Yin Yoga schmerzhafte und stimulierende Positionen (besonders häufig z.B. Hüftöffner, M. Iliospoas Dehnungen) länger halten, kann dies schnell „triggernd“ für das Nervensystem sein.

Wenn ich mich in diese Reaktion entspannen kann (ventrovagal – grün) und sich mein Nervensystem reguliert, kann dies sehr wohltuend sein und auch bisher festsitzende Anspannungen loslassen. (Das ist großartig – und kann sogar zu Heilung führen)
Wenn ich mich aber nicht hineinentspannen kann, die Situation als überfordernd erlebe (wenn auch nur subtil), aber nichts an der Position ändere, ist es viel wahrscheinlicher, dass ich mit Freeze (dorsovagal – rot) reagiere.

Besonders die Ausrichtung im Yin Yoga an der Schmerzgrenze zu bleiben, nicht davon wegzugehen, sondern mich „zu entspannen“ kann schnell eine übermäßige Reizung des Nervensystems bedeuten.

Denn aus trauma-therapeutischer Sicht ist es problematisch (eigentlich unmöglich) zu versuchen mich „in meinen Freeze zu entspannen“.  Wenn wir in einer solchen Aktivierung sind (aufgrund von Stress, vergangenen Erlebnissen) sind wir eigentlich in einem Bereich, wo wir uns nicht mehr entscheiden können, uns einfach zu entspannen – wir spüren unsere Grenzen nicht und sind handlungsunfähig – eingefroren.

Was an solchen Punkten wirklich hilft (und rein biologisch der natürliche Impuls wäre), ist die Möglichkeit für die eigenen Grenzen einzustehen und NEIN zu sagen. Hier kann es hilfreich sein, die Muskeln anzuspannen und meine Kraft zu spüren oder auch eine Übung zu beenden.
Indem ich das tue, nutze ich meine Möglichkeiten, diese Situation zu bewältigen. Dies erlaubt mir die Kraft meines Sympathischen Nervensystems (orange) für mich selbst zu nutzen, was als für die meisten Menschen wohltuend und ermächtigend ist. Deswegen werden in trauma-sensitivem Yoga und trauma-sensitiver Körperarbeit genau diese Impulse nicht nur respektiert, sondern bewusst eingeladen und beachtet werden.

Was Du in der Praxis machen kannst:

Für Dich selbst:

  • Achte bewusst darauf: Wo sind meine Grenzen heute? Wo wird etwas zu viel?
  • Gestalte bewusst kleine Experimente: Ist es besser Deine Muskeln bewusst anzuspannen und Deine eigene Kraft zu spüren? Kannst Du Dich selbst dann wieder klarer mitbekommen? Kannst Du Dich danach mehr entspannen, oder nicht?
  • Wenn die Situation nicht passt: Was kannst Du tun, um die Situation passend für Dich zu gestalten? Wie kannst Du die Position ändern, Dich vielleicht sogar bewusst dagegen anspannen? Oder ist es sogar gut, die Haltung zu beenden oder auszusetzen?
  • Wohin möchtest Du Deine Aufmerksamkeit richten? Nach innen oder außen?

Als Yogalehrer_in:

  • Setze einen klaren Rahmen, dass es OK für Schüler ist an ihren Grenzen zu bleiben und auch aktiv Asanas zu beenden / auszusetzen, wenn sich dies für sie besser anfühlt.
  • Lade sie explizit dazu ein, zu experimentieren:
    • Wie können sie diese Position für sich passend gestalten?
    • Ist es besser anzuspannen? Können sie sich danach entspannen?
    • Wohin möchten sie ihre Aufmerksamkeit richten? Nach innen oder außen? Auf sich selbst, die Dehnung oder die anderen Praktizierenden, die Pflanze in der Ecke …?

So kannst Du und können Deine Schüler Erfahrungen machen, in denen du / sie aktiv auf die eigenen Grenzen achten. Das kann eine sehr bekräftigende Erfahrung sein.

Zusammenfassung

Um das in der Einleitung bereits gesagte zu wiederholen: Yin Yoga kann super sein. Es kann Dich dabei unterstützen, Dich zu entspannen und besonders Deine Faszien dehnfähiger zu machen.

Aber es ist wichtig, genau hinzugucken, wann Du in Bereiche kommst, die Dir und Deinem Körper nicht mehr guttun:

  1. Achte auf Deine Nerven
  2. Achte auf Dein Nervensystem und Deine Grenzen

Nur so kannst Du sicherstellen, dass Du und Deine Schüler das Beste aus den Stunden mitnehmen könnt.