Yoga-Lehrer im Spagat zwischen Sport und spiritueller Praxis

Dieser Artikel richtet sich an YogalehrerInnen, GruppenleiterInnen und alle, die ihre eigene Praxis selbstständig vertiefen wollen.

Yoga hat sich als alternatives Fitnessangebot in der Gesellschaft durchgesetzt: 
Immer mehr Menschen kommen in Studios oder nutzen Online-Angebote, um ihre Gesundheit, Haltung und Fitness zu verbessern.
Das ist großartig – doch die Tradition des Yoga und viele Angebote versprechen mehr: Tiefenentspannung, Selbstkontakt und persönliche Entwicklung bis hin zur Erleuchtung.

In diesem Artikel wollen wir diese Aspekte der modernen Yogapraxis miteinander vergleichen und Yoga-LehrerInnen und -Praktizierenden Werkzeuge an die Hand geben, um ihre Stunden mehr auf die Persönlichkeits- Erforschung & Entwicklung auszurichten. 

Yoga als Fitness

Es gibt zahlreiche Angebote an Yogastunden, Online-Tutorials und Unmengen Instagram-Challenges, um deinen Körper mit Yoga auszupowern, dir den Ausgleich zum Arbeitsalltag zu holen und so Beschwerden wie z.B. Schmerzen im unteren Rücken, Verspannungen im Nacken-Schulterbereich oder einer abgeschlafften Haltung vorzubeugen. 

Yoga als Tool um in Bewegung zu kommen oder Beschwerden los zu werden, na klar – ergibt Sinn. Vor allem wenn es sich um Beschwerden handelt, die eine rein körperliche Ursache haben, wie z.B. zu schwache Rückenmuskulatur, verkürzte Beinrückseiten, zu wenig Beweglichkeit in den Schultergelenken, der Wirbelsäule oder der Hüftgelenke.
Yoga verfügt über eine endlos scheinende, Vielzahl an Übungen, zur Kräftigung und Dehnung der myofaszialen Verbindungen und sogar “Reinigung” der Organe. Als gut ausgebildete_r YogalehrerIn kannst Du bei vielen Beschwerden mit Hilfe der Asanas, Kriyas und Pranayama präzise, abwechslungsreiche und individuelle Ausgleichs- bzw. Trainingsprogramme anbieten.

Insbesondere Yogastile, die dynamische Elemente besitzen wie z.B. Vinyasa-Yoga, Power-Yoga, Bikram, AcroYoga oder Flow-Varianten legen den Fokus auf die körperliche Auslastung und Anstrengung. Man geht aus einer Haltung in die nächste, versucht mit dem Atem, einzelnen Gliedmaßen und der Koordination hinterher zu kommen. 
Wenn man Yoga praktiziert oder unterrichtet, mit dem Anliegen, dass auf körperlicher Ebene Impulse gesetzt werden, Beschwerden eine Linderung erfahren oder es ein Ausgleich zur alltäglichen Bewegungsarmut sein soll, möchten wir hervorheben, wie viel Potenzial Yoga hat – zur Kräftigung, Stärkung und Dehnung.

Doch was ist mit emotionalen, psycho-somatischen
oder gar traumatischen Problemen?

Unserer Erfahrung nach können wir einer Menge an Menschen allein durch die körperlichen Übungen helfen. Aber vielen auch nicht. Denn häufig haben Probleme auch eine psycho-emotionale Ebene. (Mehr Lesen hier: https://holistic-bodywork.org/blog-emotionen-befreien-mit-yoga )

Häufig resultieren Spannungen, Körperhaltungen oder Gesten, aus einer sogenannten  ‘Schutzhaltung’ vor psycho-emotionaler Verletzung. Das heißt, wir nehmen körperlich bestimmte Haltungen ein, wenn wir uns unsicher fühlen und uns selbst vor emotionalen Schmerzen oder Verletzungen schützen möchten. (Dies passiert häufig automatisch und basiert auf alten Erfahrungen, die wir gemacht haben und unbewusst vermuten, dass dies wieder passieren kann/wird.) (Lies hier mehr zu der Unterscheidung zwischen körperlichen Schutzspannungen und emotionalen Schutzhaltungen.)

Wir sind der Meinung, dass es zum Lösen und Verändern dieser Art von Spannungen und Mustern andere Fähigkeiten braucht, als nur den Körper an den richtigen Stellen zu trainieren. 
Es braucht das passende Setting, in Wort und Tat, innerer und äußeren Haltung, sowie die Fähigkeit, den Menschen vor Dir zu begleiten, körperlich, emotional, mental, sozial, gemeinsam ankommend – im Hier und Jetzt. Dem einzigen Ort an dem wir überhaupt etwas verändern können. 

Genau das können wir als Yogalehrer in einer Stunde anbieten.

Beispiel: Rückbeugen körperlich nutzen
aka “die oberflächliche vordere Faszienkette dehnen”

Je nachdem wie wir Yogastunden aufbauen und leiten, werden Menschen sehr unterschiedliche Erfahrungen machen und Erlebnisse haben. Die gleichen Asanas können unterschiedlich wirken und genutzt werden – zur körperlichen Ertüchtigung, zum trainieren oder zur Selbsterforschung. Dies wollen wir Dir an einem Beispiel mit dem Üben von Rückbeugen, aka Herzöffnern, verdeutlichen.

Auf rein körperlicher Ebene gehören Rückbeugen zu der Kategorie von Übungen, bei welchen die vordere Faszienkette gedehnt wird und die hintere Faszienkette gekräftigt und gestärkt wird.

LIES HIER MEHR

Insbesondere die vorderen Oberschenkel, Hüft- und Bauchmuskulatur werden gedehnt. Die Brustmuskulatur und vorderen Halsmuskeln können mit auf Länge gebracht werden.

Im Gegensatz dazu wird meist die Körperrückseite gekräftigt: die hintere Beinmuskulatur, deine Gesäßmuskeln, sowie die oberflächlichen und im Idealfall auch tiefen Rückenmuskeln sowie die Schulter-Nackenmuskulatur.

Zusätzlich wird deine Brustwirbelsäule, in dem Abschnitt, der am meisten gekrümmt ist – rund um deinen Brustkorb gestreckt. Das heißt, mit Rückbeugen hast du 2 in 1: du kräftigst die Muskeln die durch langes Sitzen geschwächt werden und dehnst solche, die durch langes Sitzen verkürzen. 

Und: “tada” – weniger Rückenschmerzen, weniger Kopfschmerzen, weniger Schulterschmerzen. 

Wirkung von Rückbeugen 

Strecken und Längen die Oberschenkelvorderseite & Hüftmuskulatur die über die Leiste zieht 
Dehnen die, v.a. die geraden, Bauchmuskeln 
Dehnen die Zwischenrippenmuskeln und den großen sowie kleinen Brustmuskel 
Bewirken eine Aufrichtung bzw. Streckung der Brustwirbelsäule (öffnen das Herz)

Bringen die Schultern nach außen, unten und hinten 

Wie eine körperliche Rückbeugen-Praxis aussehen kann:

Wir laden Dich ein, mit dem Video “Bhunjangasana” – die Kobra- mit zu üben und nach dem Üben mit den folgenden Fragen zu reflektieren, wie diese Haltung für Dich ist und welche Wirkung diese Haltung hat.

Reflexionsfragen:

Nach diesem kleinen Experiment laden wir Dich ein, einen Moment wahrzunehmen, wie es gerade ist:

  • Was bemerkst Du? Gibt es etwas angenehmes in deinem Körper?
  • Gibt es eine Stelle im Körper, die schmerzt?
  • Wie geht es Dir nach dem Üben?  IUnserer Meinung nach gibt es immer 3 Möglichkeiten wie etwas wirkt: Es hat
  1. keinen Einfluss (neutral),
  2. einen positiven Einfluss,
  3. einen negativen Einfluss.

Wir glauben, wenn man die Möglichkeit hat, mitzubekommen was in einer Haltung passiert, man schon die Richtung abschätzen oder bemerken kann, wie eine Haltung wirkt. 
Mit diesem Bemerken im Hier und Jetzt, kann man live und direkt in die gewünschte Richtung gehen, Yoga nachhaltig gestalten und sich so den Wünschen und echten Bedürfnissen von Dir und deinen Schüler*innen anpassen.  

Denn wenn wir den Punkt verpassen mitzubekommen wo wir gegen eine Spannung oder Haltung arbeiten, vor allem auch körperlich, d.h. über eine (physische) Grenze gehen, dann werden wir diese Spannung nicht (dauerhaft) lösen sondern immer wieder reproduzieren oder sogar verschlimmern. Mit diesem Hintergrund möchten wir Dich ermuntern, Rückbeugen auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Rückbeugen emotional nutzen
aka “Herzöffner”

Wenn es auf dieser gefühlsmäßigen Ebene regelmäßig, dauerhaft oder immer wieder zu, psycho-emotionalen Verletzungen kommt, kann eine Körperhaltung hierdurch geprägt sein und typischerweise zwei Ausdrucksformen finden:  

  1. die eine wird versuchen ihr Herz und diesen Bereich zu schützen, einfallen und damit zu verstecken (Schutz, Flucht)
  2. die andere wird das Gegenteil tun, einen “Brustpanzer” anlegen, mit Stolz und Kraft unberührbar werden (Angriff, Kampf).

Diese Schutzhaltungen prägen sich körperlich aus und können Probleme verursachen. Probleme, die wir dann z.B. durch unsere Yogapraxis “verbessern” wollen. 

Nun stellt sich die Frage: Können wir Yoga nutzen, um auch auf der psycho-emotionalen, gefühlsmäßigen Ebene mit Menschen zu arbeiten? Die Antwort ist Ja. 

Aber dafür braucht es ein anderes Setting.

Denn unser emotionales oder energetisches Herz können wir nicht dehnen, 
wir können ihm nicht vorgeben was es zu fühlen hat oder es trainieren. 
Doch wir können uns unserem Herz zuwenden, hineinhören und es erforschen. 

Unsere Yogapraxis ähnelt dann viel mehr einer inneren Entdeckungsreise. Und für diesen Selbstfindungstrip musst du noch nicht mal nach Bali fliegen. 

Unsere Einladung an Dich ist, Yoga umfassend zu nutzen, auch als Bewegungspraxis und um uns emotional auf uns selbst einzustimmen, mit uns in Kontakt zu kommen und uns zu entwickeln.

Ein Beispiel, wie Du als Yogalehrer „innere Erforschung & Entwicklung“ einladen kannst:

Im nächsten Video möchten wir Dir eine Möglichkeit zeigen, wie Du beim Yoga mit einfachen Fragen auch die „Fühl-Ebene“ mit einbeziehen kannst. 
Deine eigentlichen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen wahrnehmen und  berücksichtigen lernen kannst – und so Dein volles Potenzial entfalten und Dich weiterentwickeln kannst. 

Nach diesem kleinen Experiment laden wir Dich ein, diese Sequenz einen Moment ganz auf Dich wirken zu lassen:

  • Wie ist es gerade?
  • Was bemerkst Du?
  • Was ist gleich oder anders im Vergleich zum Üben mit dem ersten Video?

Ein Beispiel, wie Du als Yogalehrer „innere Erforschung & Entwicklung“ einladen kannst:

Im nachfolgenden Block möchten wir Dir einen Überblick geben, wie Du mit deiner Sprache, Formulierungen und Gesten mehr die körperliche Fitnesskomponente oder die emotionale Selbsterforschung in die Yogapraxis betonen kannst.

Tools

Yoga als Fitness 

emotionale Selbsterforschung 

Tempo

schnelles & hohes Tempo der Ansagen, wenig Zeit um sich “Gedanken zu machen” Zeit zum Ankommen geben

“Ich lade Dich ein, Dir einen Moment zu nehmen, um auf deiner Matte, auf dem Bauch liegend anzukommen.”

Dauer /Wiederholung

insgesamt von der Dauer kürzer (2 Min)

Atemzüge mit Zählen

“Und wir bleiben noch für 3, noch für 2, und noch 1…”

mehrmaliges wiederholen der Asanas

“Komme nochmal in die Haltung…” 

dauert länger (insg. 4 Min) 

“Spür- und Fühlzeit” geben 

Ansage/ Anleitung 

körperliche Ausführung steht im Vordergrund: 

“ aktiviere Deine tiefe Bauchmuskulatur, in dem Du den Bauchnabel nach innen und hinten Richtung Schulterblätter hoch ziehst”

emotionale Komponente mit benennen:

in Deiner Zeit, ganz für Dich und Deinen (Herzens-) Raum. Zum spüren, fühlen, ausprobieren und Pause machen. Wie nimmst Du Dich und Dein Herz momentan wahr?”

Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich lenken

“Ich möchte Dir nun Raum geben, ganz für Dich zu entscheiden, wie intensiv, tief, sanft, anstrengend oder angenehm du deine Rückbeuge gestalten möchtest.”

Varianten / Schwierigkeitsgrad

Verstärken der Haltung: 

“verstärke die Haltung, in dem du deine Hände noch fester in den Boden drückst und dabei versuchst, deine fixierten Handflächen energetisch auswärts zu drehen”

Explizites einladen des Fühlens, des Denkens, des Wahrnehmens – auch energetisch

 “Wie fühlst Du Dich, Hier und Jetzt? Was bemerkst Du? Was spürst Du – körperlich? Was fühlst Du – emotional?”

Innehalten – Verlangsamen

“Nimm Dir gerne Deinen Raum, in Deiner Zeit, ganz für Dich und Deinen (Herzens-) Raum. Zum spüren, fühlen, ausprobieren und Pause machen. “

Varianten werden nicht vorgegeben, es wird zum selbstständigen Ausprobieren und Entscheiden eingeladen: 

“Gibt es jetzt Impulse, die Dir gut tun könnten?ganz für Dich zu entscheiden, wie intensiv, tief, sanft, anstrengend oder angenehm du deine Rückbeuge gestalten möchtest.”

Einladen, Grenzen wahrzunehmen und diese zu wahren  

“Ich hoffe, dass Du es Dir heute in der Yogapraxis ganz gut gehen lassen kannst, du selbst gut für dich, dein Herz und deine Grenzen sorgst.”

Übergänge 

direkt in die nächste Haltung  individuelles Tempo beachten 

“finde einen ganz für Dich und dein Herz passenden Weg, aus der Yogaasana. Verabschiede Dich von dieser Position, diesem Erleben und schau ob Du einen stimmigen Übergang zu … findest.” 

Zeit zum nachspüren geben 

“ Nimm dir einen Moment, um das ganz wirken zu lassen” 

Intention 

Bauchmuskulatur aktiv dehnen, durch die Aktivierung der hinteren Kette: Bein-, Rücken-, Schulter- & Armmuskualturkörperliche Anstrengung ist gewollt  Individuell erforschen lassen wie eine Haltung auf die einzelne Person ganz subjektiv wirkt 

Wir hoffen, diese Ausführung hilft Dir und Du kannst diese Tools und Formulierungen auch in Deinen Yogastunden nutzen.

Zu genau diesen Themen bieten wir auch immer wieder Workshops an. Wenn Du mehr Interesse hast, komm gerne vorbei!