Stress abbauen mit Yoga

Warum kommen Menschen zu uns ins Yoga?
Da gibt es die körperlichen Gründe:

  • Um beweglicher zu werden
  • um einen Ausgleich zum langen Sitzen und Arbeiten zu haben (um Rückenbeschwerden oder Schulterschmerzen loszuwerden)
  • um gesund zu werden und zu bleiben

Darüber hinaus haben viele auch andere Wünsche:

  • Sie wollen entspannen und Stress abbauen
  • Achtsamkeit und innere Ruhe lernen und kultivieren
  • Auftanken
  • Etwas für sich tun
  • Und wieder mehr Selbstkontakt finden

Diese Wünsche liegen uns in unseren Yogastunden besonders am Herzen. Entspannen und Selbst-Kontakt finden, bildet die Grundlage für viele körperliche Prozesse.

Deshalb die Frage: Was hilft Menschen eigentlich dabei sich zu entspannen und Stress loszulassen?

Stress-Level und Stress-Programm im Yoga erkennen:

Die Unterscheidung, was jedem einzelnen Menschen hilft ist zum Einen sehr individuell: Du magst Hüftöffner, ich Rückbeugen, ein anderer ist ganz verrückt nach Umkehrhaltungen.
Zum Anderen gibt es Komponenten, die allgemein gültig sind: Je nach Stress-Level haben Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und brauchen unterschiedliche Schwerpunkte in der Praxis.

Ein Modell, um die verschiedenen Stress-Levels zu erkennen und nutzen zu können, möchten wir Dir hier vorstellen: Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges.
Laut dieser gibt es drei unterschiedliche anatomische Strukturen und Funktionen in unserem Nervensystem die mit Stress-Levels zusammenhängen. Vereinfacht werden wir sie durch die Farben der Ampel beleuchten: Es gibt die Stress-Level Rot, Orange und Grün.

Wie sehen diese unterschiedlichen Levels aus und wie fühlen sie sich an?

1. Grün – Entspannt

Schülerin 1 kommt zur Stunde und fühlt sich entspannt, neugierig und präsent. Sie ist offen und freudvoll der Yogastunde gegenüber, neugierig was passieren wird.
Auf die Yogalehrerin wirkt sie anwesend, ruhig und berührbar. Es macht Spaß mit ihr zu kommunizieren, ein Gespräch mit ihr ist lebendig und ihre Körpersprache lebendig, ohne übertrieben zu sein.

2. Orange – Im Stress

Schüler 2 fühlt sich gestresst, als müsste er noch schnell was tun… er hat auf dem Weg zum Yoga fast einen Unfall erlebt und probiert pünktlich zu sein, er kann kaum stillstehen.
Von außen wirkt er angespannt, zum Teil auch fahrig und sprunghaft in Gestik, Mimik und Sprache. Im Gespräch mit der Lehrerin spricht er zackig, genaues aufeinander eingehen ist nur begrenzt möglich, sie stößt schnell an starre Grenzen.

3. Rot – Überfordert

Schülerin 3 kommt zur Stunde und hatte eine sehr schwere Woche, die sie in vielen Punkten überfordert hat. Sie spürt sich selbst nicht so richtig, und hat innerlich keine klaren Grenzen. Ihre Gedanken und Körperwahrnehmung verschwimmen, sie ist „irgendwie OK“, doch auch abwesend und fühlt sich leer, starr und kraftlos – aber eben auch „irgendwie OK“.
Von außen wirkt sie nicht ganz da, ungreifbar, weder mit sich noch mit anderen so wirklich in Kontakt. Für den Yogalehrer ist sie schwer einzuschätzen. Im Yogaunterricht hat der Lehrer den Eindruck, dass sie die Frage, ob sie in einer Haltung unterstützt oder berührt werden mag, gar nicht wahrnimmt und bekommt auch keine Antwort darauf.

Diese 3 beschriebenen Levels entsprechen unterschiedlichen Strukturen in unserem Nervensystem:

  • Grün – der myelinisierte „ventrale“ Vagus
  • Orange – das sympathische Nervensystem
  • Rot – der nicht-myelinisierte „dorsale“ Vagus

Jede dieser Strukturen ist ein „Stress-Programm“ in unserem Körper und beschreibt eine evolutionär entwickelte Möglichkeit mit Stress und Herausforderungen umzugehen. Jeder dieser Zustände bietet einen ganz expliziten (Überlebens-)Vorteil für unterschiedliche Situationen.

(Im Fall von Trauma sind diese Programme chronisch aktiviert, auch wenn sie nicht gebraucht werden, mehr dazu lesen kannst du hier.)

Vom Stress in die Entspannung – ein Werkzeugkasten

In jede Yogastunde kommen Schüler*innen in unterschiedlichen Stress-Leveln. Manche kommen entspannt zur Yogastunde, andere aus dem Berufsstress und wieder andere sind gerade vollkommen überfordert von ihrem Leben. Das ist normal. Das ist die Vielfalt, der volle bunte Blumenstrauß des Lebens.

Doch die Frage ist: Wie können wir versuchen möglichst alle abzuholen und auf die, wir mutmaßen, auch sehr unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche der Teilnehmer*innen mit einzugehen?

Dafür ist es wichtig, zu verstehen, welche Schritte helfen, um aus den einzelnen Levels in die Entspannung zu kommen. Wir haben Dir hier ein paar erprobte Ansätze und Tools gesammelt:

Rot: Aus der Überforderung raus und hin zur Selbstwahrnehmung

Es ist sinnvoll, Schüler*innen in rot erstmal dabei zu begleiten, wieder eine klarere Selbstwahrnehmung zu bekommen. Besonders wichtig dafür ist es, sich wieder orientieren zu können: In Raum, Zeit, Körper und dem Setting.

  • Welche Körperteile berühren die Matte?
  • Was magst Du, wenn Du um mich herum schaust?
  • Wie fühlt sich die Unterlage, Dein … an?

Was ist wichtig für dich als Lehrende*r: Nutze klare und eindeutige Ansagen und Anweisungen, wie z.B.

  • „Stell den Fuß gerade auf – eine handbreit vom Mattenrand entfernt.“
  • „Blick Dich einmal im Raum um – was gefällt Dir und zieht Deine Aufmerksamkeit an? Bleib da ruhig mit Deiner Aufmerksamkeit.“

Hier ist es dienlich, klare Objekte als Orientierungspunkte im Raum anzubieten und als Anker zu nutzen. Am Liebsten gerade Linien im Außen, mit starken schwarz-weiß Kontrast (die Yogamatte ist hier sehr nützlich!).

Mögliche Techniken in der Gruppe und in Einzelbehandlungen:

Gruppe:

Einzelbehandlungen:

  • kurze klare Ansagen
  • Adjustmenst & Hilfestellungen: klare Berührungen an den großen Muskeln.
  • Einfache Positionen, die große Muskelgruppen ansprechen (Kaliasana, Kriegerhaltungen, Tadasana)
  • Einladung zum Umblicken
  • Klare Orientierungspunkte (Drishti) geben im Yogaraum, auf der Matte, zu den Hilfsmitteln
  • natürlich alles was in der Gruppe hilfreich ist und …
  • indiduell angepasstes Ankommen lassen – umblicken, Augenkontakt
  • An sicheren Körperarealen beginnen (Beine, Arme)
  • Klare Berührungen anbieten – nicht zu zaghaft, einfache „ja/nein Feedback Fragen

Wenn der/die Schüler/in wieder orientiert ist, kann es Sinn ergeben, zu einer Praxis überzugehen, in welcher die Stress-Ladung (Spannung, Gefühle wie z.B. Wut oder Angst …) abgebaut werden kann. Das heißt, die Übungen für „Orange“ im nachfolgenden Absatz passen dann sehr gut.

Orange: Stress-Energie nutzen und verbrauchen

Wenn Menschen „im Stress sind“, sprich: unruhig sind, viel über Aufgaben und To Dos nachdenken, wütend, ängstlich oder angespannt sind, dann ist es oft hilfreich, diese Energie zu nutzen.

Das heißt, die Spannung, die da ist zu ver- bzw. gebrauchen um dadurch besser loslassen zu können. Dabei hilft es, die großen Flucht- & Kampfmuskeln des Körpers (Oberschenkel, Schultern, Kiefer-, Bauchmuskulatur…) zu nutzen und auch Anstrengung einzuladen.

Mögliche Techniken in der Gruppe und in Einzelbehandlungen:

Gruppe:

Einzel:

  • Anstrengende Positionen für Beine, Rumpf und Schultern z.B. eine dynamische Variante von Malasana (Squat-Varianten), Uktanasana (Stuhlhaltung), eine Kriegersequenz, Kumbakhasana-Varianten, Navasana-Varianten
  • Wiederholung von Übungen oder Abfolgen – „Und noch 2“
  • Die Gesichtsmuskeln mit aktivieren: Grimassieren und Lautieren
  • Zwei Varianten von Haltungen anbieten und den/die Schüler/in entscheiden lassen: So ODER so
  • Pranayamaübungen wie z.B. Kapalabhati  oder Simhasana (der Löwenatem)
  • Übungen aus anderen Ansätzen wie BudokonYoga, Trauma Release Exercises, AcroYoga, … mit hineinnehmen
  • natürlich alles was auch in der Gruppe hilfreich ist und
  • Arbeit mit Armen und Beinen (kräftiger Druck & Dehnung)
  • Klaren Kontakt anbieten – auch für Wut und Angst. Z.B. einen Widerstand anbieten, wo man dagegendrücken, schieben kann, …
  • Techniken die Aktivität einladen (PIR) – ggf. im Sitz/Stand arbeiten 

Grün: Entspannung genießen und neugierig forschen

Wenn wir „grün“ sind, also entspannt, können wir mit quasi jeder Praxis, die uns angeboten wird etwas anfangen und uns auf diese einstellen. Wir nehmen uns selbst wahr, kriegen mit was gut für uns ist und was nicht. Aufgrund dieser Eigenwahrnehmung und des Selbstkontakts können wir gut für uns selbst sorgen – auch in der Yogapraxis! Genau das ist oft erfüllend, lässt uns auftanken und verbindet uns sogar „mit etwas größerem“.

Was Yoga dann besonders interessant macht, ist die Möglichkeit uns selbst durch die Positionen, die uns gut tun, weiter zu erforschen. Ein offenes einfach mit dem sein, was grade ist – häufig Momente einfach zum genießen.

Mögliche Techniken in der Gruppe und in Einzelbehandlungen:

Gruppe:

Einzel:

  • Offene Settings anbieten:
    • Wie kommst Du gut von Asana A zu Asana B?
    • Zeit zum Selbstausprobieren und Wiederholen anbieten, (ohne dass ein Vorschlag mit hineingegeben wird)
  • Stillpunkte und Ruhepause für die Wahrnehmung explizit einladen
    • Was bemerkst Du körperlich in dieser Haltung
    • Wie sind deine Gedanken?
    • Wie ist deine Stimmung, dein gefühlsmäßiges Erleben?
    • Was passiert energetisch
    • Haltungen erforschen:
      • Was lässt mich in „grün“ bzw. entspannt sein und  bleiben?
      • Wie kann ich in „orange“ kommen, mich aktivieren?
      • z.B. Durch Geschwindigkeitswechsel, Drishti-Veränderung, ect.
  • Energetisches Wahrnehmen und Meditation anbieten
  • Gemeinsam erforschen, was dem/der Schüler/in gut tut
  • Subtile Techniken: Cranio, Schwingungen, Harmonics…
  • Wenn der Klient den Wunsch hat, ein „schwieriges“ Thema zu erforschen, hilft es oft, zwischen der Entspannung (grün) und dem Thema hin und her zu pendeln. („Wie kannst Du das Thema berühren… und wie kannst Du dann wieder zu der Entspannung zurückkehren?“)
  • Alles, was in der Gruppe erforscht und gefragt werden kann.

Zusammenfassung und Beispiel:

Menschen kommen mit unterschiedlichen Wünschen und Stress-Levels in unsere Yogastunden. Das bedeutet für unseren Yogaunterricht bzw. die Einzel-Praxis, dass es sinnvoll ist, möglichst viele dieser Wünsche und Stress-Levels anzusprechen.

Dies können wir tun, indem wir unsere Ansagen und Stimme bewusst anpassen:

  • Klare Stimme und Ansage: Stell Dich so hin, dass Deine Zehen vorne die Mattenkante berühren und nimm Dir einen Moment Zeit zu stehen (besonders rot und orange ansprechend).
  • Weichere Stimme, einladend: Wenn Du möchtest, nimm wahr, wie es für Dich ist, hier anzukommen, Hier und Jetzt (besonders grün).
  • Klare Stimme und Ansage: Blick Dich einmal um, nimm wahr, was an diesem Raum Dich gerade anzieht und bleib mit Deiner Aufmerksamkeit einen Moment da (besonders rot, aber auch für orange und grün gut machbar).
  • Klare Stimme, z.B. bei Hüftöffnern, herausfordernden Positionen: Nimm wahr, wo Deine körperliche Grenze ist… und bleib da – nicht darüber hinausgehen (rot und orange)
  • Weichere Stimme, mehr nach innen einladend: Nimm wahr, wie es für Dich ist, an genau dieser Grenze zu sein, verändert sich etwas in Deiner Innenwelt? (grün)
  • Sehr klare Stimme, etwas fordernd: Und nur wenn Du gerade willst, spann einmal gegen die Öffnung, nimm Deine Kraft wahr… Wie ist es Deine Kraft zu spüren? (besonders orange)

Jede Ansage, jede Stimmlage, jeder Berührung und Asana spricht unterschiedliche Qualitäten in unseren Schülern an. Wenn wir die Übungen und innere Haltung an die Klasse anpassen können, können wir diese bewusst in dem Stress-Level ansprechen, mit dem sie kommen, oder das aufkommt.
So können wir langfristige Entspannung, Stressabbau und Wohlbefinden unterstützen. Und, das macht ziemlich Spaß 😉

Wir hoffen, Dich ein bisschen inspiriert zu haben. Wenn Du Fragen oder Wünsche hast, schreib uns gerne!