Du findest Teil 2 dieser Serie
zur Unterscheidung zwischen Schock- und Entwicklungs-Trauma HIER.
‚Trauma’ ist zur Zeit ziemlich in. Psychotherapie, Medizin, Yoga, Selbsthilfe-Szenen und ja, auch Körperarbeit und Massage befassen sich vermehrt mit der Arbeit mit Traumata und den Auswirkungen solcher. Ein Beispiel für dies, sind die Änderungen des ICD-11 Katalogs der WHO, in dem Trauma viel umfassender als Ursprung für viele Symptome anerkannt wird.
Durch die Sensibilisierung für und Konfrontation mit diesem Thema begegnen uns in unseren Ausbildungen viele Fragen, und Befürchtungen:
- Wie kann ich professionell mit traumatisierten Klienten umgehen?
- Woran kann ich Trauma erkennen?
- Kann ich Menschen retraumatisieren?
Dies sind alles wichtige Fragen. Doch in diesem Artikel möchte ich einen kleinen Schritt zurücktreten und mich der Frage widmen:
Was ist Trauma eigentlich?
In vielen Diskussionen wird das Wort „TRAUMA“ von unterschiedlichen Menschen (unter anderem Ausbildern, Therapeuten Journalisten, Bloggern …) sehr unterschiedlich und teilweise unpräzise benutzt. In extremen Fällen werden alle unangenehmen oder belastenden Erfahrungen als „traumatisch“ bezeichnet.
Deswegen möchte ich in diesem Artikel etwas Klarheit schaffen und eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Thema bieten. Meine Hoffnung ist, dass Du nach diesem Artikel für Dich selbst beantworten kannst, was Trauma eigentlich ist.
Der etymologische Ursprung des Wortes Trauma liegt im Griechischen: trá͞uma (τραῦμα) heißt wörtlich übersetzt ‚Verletzung, Verwundung, Wunde, Schaden’. Seit dem 18 Jahrhundert wird es in der Fachsprache für eine ‚seelische Erschütterung’ genutzt.
Moderne Trauma-Forschuer, wie Stephen Porges, Peter Levine und Bessel van der Kolk betrieben, betont die Rolle des autonomen Nervensystems in der Entstehung und Aufrechterhaltung einer solchen Erschütterung. Sie bezeichnen Trauma als eine chronische Aktivierung evolutionär alter Strukturen unseres Nervensystems, welche die Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken in jedem Moment beeinträchtigen.
(Mehr zur Rolle des Nervensystem bei Trauma, in diesem Artikel…)
PDF-Handout: Was ist Schock-Trauma?
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Ein Trauma ist die Erschütterung, die bleibt
Um präzise über Trauma zu sprechen, ist es mir wichtig eine Unterscheidung einführen, die oft übersehen oder vermischt wird: Ein traumatisierendes Ereignis ist nicht das Gleiche, wie die traumatischen Auswirkungen davon.
Dennoch werden beide sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch, als auch der Fachliteratur als Trauma bezeichnet:
- Ereignis: „Der Unfall war ein Trauma“ bzw. „die Ereignisse waren traumatisch“.
- Auswirkungen: „Der Unfall hat ein Trauma verursacht“ bzw. „er hinterließ die Person traumatisiert“.
In der engeren Definition der oben genannten Forscher und von Holistic-Bodywork bezeichnet ‚Trauma’ die Auswirkungen, die nach einem Ereignis bleiben. ‚Trauma’ ist die seelische Erschütterung die anhält und das Leben negativ beeinflusst, auch wenn der erschütternde Vorfall schon vorbei ist. (Dieses Verständnis von Trauma deckt sich mit der neurophysiologischen Perspektive, dass Trauma die chronische Aktivierung des Nervensystems bezeichnet.)
Ein sehr einfaches Beispiel: Ich habe einen Fahrradunfall (Ereignis) und danach eine Wunde an der Wade (Wunde) – Die Wunde bleibt, auch wenn der Unfall bereits vorbei ist.
Ohne bleibende Auswirkungen ist ein Ereignis nur ein Ereignis – kein Trauma. Ein Ereignis kann nur dann als traumatisierendes Ereignis bezeichnet werden, wenn es traumatische Auswirkungen hat. Und welches Ereignis für welche Person traumatische Auswirkungen hat, kann nicht objektiv (von außen) vorhergesagt werden.
Was sind Merkmale traumatisierender Ereignisse?
Jeder von uns macht viele Erfahrungen – auch viele negative. Die wenigsten von ihnen sind tatsächlich traumatisierend. Was ist bei traumatisierenden Erfahrungen dann anders?
Damit Ereignisse traumatisierend sein können, müssen sie vor allem zwei Punkte erfüllen:
- Es ist unerträglich – Ich erlebe eine Situation als existentiell bedrohlich oder nicht auszuhalten
- Es übersteigt die individuellen Bewältigungsmechanismen – Ich habe (in meinem Erleben) keine Möglichkeit etwas an der Situation zu ändern
(Unterschiedliche Forscher betonen noch erlebte Gefühle von Hilflosigkeit, Entsetzen etc. Diese können aber auch als Konsequenzen aus den ersten beiden Punkten verstanden werden.)
Es kann nicht allgemein gesagt werden, welche Situation für wen traumatisierend wirkt, da es davon abhängt, wie ein Individuum die Situation erlebt (unerträglich) und ob das Individuum Möglichkeiten hat, die Situation zu bewältigen (keine Möglichkeit etwas zu tun).
Zurück zum Beispiel des Fahrradunfalls: Die Speiche drückt gegen meine Wade und für die körperlichen Strukturen ist diese Situation unerträglich – sie können dem Druck nicht mehr standhalten. Aufgrund der Position der Wade gibt es keine Möglichkeit für das Gewebe zu entkommen. Deswegen bohrt sich die Speiche in die Wade.
Und auf ein seelisches Trauma übertragen: Aufgrund der Speiche in meiner Wade habe ich starke, unerträgliche Schmerzen. Aufgrund meiner Verletzungen kann ich mich nicht bewegen – Ich habe keine Möglichkeit zu handeln, sondern fühle mich hilflos.
Diese Situation könnte traumatisierend sein – muss es aber nicht. Das hängt davon ab, was danach passiert.
Wann / Warum entwickeln sich traumatische Auswirkungen?
Ein Ereignis wird erst dann zu einem Trauma, wenn wir die Geschehnisse nicht verarbeiten können. Eine Situation kann noch so überfordernd und unerträglich sein, so lange wir das Geschehene danach verarbeiten, verstoffwechseln und vollenden können muss es keine bleibenden („seelischen“) Auswirkungen auf unser Leben haben.
Wir verarbeiten, verstoffwechseln und integrieren ein Ereignis, wenn wir
- Die Ladung aus dem Nervensystem entladen können (durch Zittern, Bewegung…)
- Die Gefühle, die mit der Situation verbunden sind fühlen und loslassen (Wut, Angst…)
- Eine kohärente und gesunde mentale Orientierung zu dem was passiert ist entwickeln (zusammenhängende Erinnerungen formen, Narrativ entwickeln…)
- Daraus lernen können und alternative Verhaltensmöglichkeiten entwickeln, die wir in der Zukunft nutzen können (in der Vorstellung, wirklich durchführend, …)
Wenn diese Schritte nicht stattfinden, bleiben Aspekte aus dem Ereignis in unserem System ‚hängen / stecken’ und beeinflussen zukünftige Situationen
- Unser Nervensystem ist chronisch aktiviert, wir fühlen uns unsicher, genervt, überreagieren auf einfache Situationen
- Alte Emotionen bleiben im System und können schnell ‚getriggert’ werden – wir werden plötzlich wütend, traurig ohne klaren Grund warum
- Wir entwickeln ein ungesundes Selbst- & Weltverständnis (Glaubenssätze) – „das ist alles meine Schuld“, „ich bin schlecht“
- Wir hängen in rigiden Mustern des Verhaltens fest – Vermeidungsstrategien und wiederholende Muster
Traumatische Auswirkungen machen ein Ereignis traumatisierend
Es braucht die traumatischen Auswirkungen eines Ereignisses, damit wir ein Ereignis als „traumatisierend“ bezeichnen können. Wenn keine Auswirkungen bleiben, war auch das Ereignis nicht traumatisierend.
Anders gesagt: Wir können eine Situation nicht von außen betrachten und sagen „Das ist ein Trauma!“ Wenn ein Ereignis komplett verarbeitet ist, hat es keine „seelischen“ oder neurophysiologischen Auswirkungen mehr auf das weitere Leben.
Deswegen nutzen wir in Holistic Bodywork das Wort ‚Trauma’ auch, um die bleibenden Auswirkungen zu bezeichnen.
Wie Trauma unser Leben beeinflusst
Das was wir von vergangenen Ereignissen nicht verarbeiten konnten, beeinträchtigt unser Leben negativ – nicht das Ereignis an sich.
Alte Emotionen, Ladungen, Verhaltensweisen und Glaubenssätze stecken noch immer in uns und beeinflussen unser Verhalten, Fühlen und Denken Hier und Jetzt, auch wenn das Ereignis längst vorbei ist.
Dies geschieht, ohne dass wir uns darüber bewusst sind, dass dies alte Traumata sind.
- Wenn mein Nervensystem aufgrund meines Fahrradunfalls chronisch im Kampf-Flucht Modus ist, fühle ich mich in meinem Leben ständig angespannt, ängstlich oder wütend – weiß aber nicht, wo dieses Gefühl herkommt.
- Wenn diese alten Emotionen getriggert werden, fühlt es sich an, als wäre ich jetzt gerade hilflos, wütend oder pansich – obwohl die Gefühle von damals-dort kommen
- Und ich glaube meine krampfhaften Anstrengungen Fahrräder und Straßen zu vermeiden, sind notwendig und korrekt
Wir erleben Trauma nicht von außen. Sondern es beeinflusst unser momentanes Er-Leben von innen heraus.
Zusammenfassung:
Trauma ist die ‚Erschütterung, die nach einem Ereignis bleibt und unser Leben beeinträchtigt. ‚Trauma’ bezeichnet die traumatischen Auswirkungen, die bleiben, wenn wir ein unerträgliches Ereignis nicht verarbeiten konnten, sondern Emotionen, Nervensystem-Aktivierung, Glaubenssätze und Verhaltensweisen steckengeblieben sind und unser Verhalten, Denken und Fühlen in der Zukunft von innen heraus beeinflussen.
Ausblick:
Basierend auf dieser Basis können wir uns jetzt der Unterscheidung von Schock- und Entwicklungs-Trauma zuwenden. Warum diese wichtig ist und wie beides therapeutische (Körper)Arbeit beeinflusst. Doch mehr dazu in Teil 2 dieser Reihe…
- https://www.verywellmind.com/ptsd-causes-and-risk-factors-2797397
- https://www.dwds.de/wb/Trauma
https://www.somaticexperiencing.at/trauma/psychotraumatologie/
https://www.mindbodygreen.com/0-18152/understanding-scar-tissue-what-it-is-how-to-care-for-it.html
https://www.nigms.nih.gov/education/pages/factsheet_trauma.aspx
https://www.somatic-experiencing.de/was-ist-somatic-experiencing/