Kann ich meine Klienten retraumatisieren?

Kurze Antwort: Ja, wir können Menschen retraumatisieren – während einer Massage, einer Yogastunde, einer therapeutischen Sitzung oder einer normalen Alltagssituation mit unserem Partner.

Das zu verstehen und anzuerkennen ist nicht einfach. Besonders für uns alle, die ihr bestes geben, um andere Menschen bei ihrer Heilung und Entwicklung zu unterstützen. 

Deswegen wollen wir in diesem Artikel anhand von zwei Fallbeispielen betrachten, wie Retraumatisierung geschieht (und dass es nichts mit bösen Absichten zu tun hat) und was wir tun können, um dies zu vermeiden.

Was ist eine Retraumatisierung?

Die Definition für Retraumatisierung ist ein erneutes Erleben eines Traumas OHNE eine daraus resultierende Veränderung oder Entladung. Dies kann man als eine „Auffrischung“ des feststeckenden Traumas betrachten.
Wenn ein Traumamuster aktiviert und nur wiedererlebt wird, verstärkt es sich typischerweise. Physiologisch betrachtet werden dabei Neuronen-Netzwerke gestärkt, was eine erneute Aktivierung genau dieser Netzwerke in der Zukunft einfacher und wahrscheinlicher macht. So entsteht ein (Trauma-) Teufelskreis. 

Das heißt, Retraumatisierung kann stattfinden, wenn etwas was wir in der Vergangenheit nicht verarbeiten konnten jetzt aktiviert wird, nur um dann wieder nicht verarbeitet zu werden.

Wie im letzten Artikel besprochen, unterscheiden wir in Holistic Bodywork Schock- und Entwicklungstrauma. Diese Unterscheidung ist auch bei „Retraumatisierung“ wichtig, da verschiedene Auswirkungen entstehen:

  • Retraumatisierung bei Schock-Trauma: Die feststeckende Nervensystem-Energie eines Schock-Traumas wird aktiviert (z.B. der Schock eines Fahrradunfalls). Wenn das Nervensystem sich dann wieder nicht regulieren (runterfahren) kann, wird die chronische Anspannung steigen.
  • Retraumatisierung bei Entwicklungs-Trauma: Die Schutzstrategien und Identifikationen der Vergangenheit werden aktiviert (z.B. die Angst verletzt zu werden und der Glaube „Ich kann niemandem vertrauen“, mitsamt der Ladung des Nervensystems, Glaubenssätzen, Spannungs- & Verhaltensmustern…). Wenn dies in er Behandlung getriggert wird, ohne Klärung zu finden kann dies leicht zu einer „Bestätigung“ der Schutzstrategien führen, wodurch sie sich weiter verfestigen.

Das heißt nicht, dass der Behandler oder Therapeut schlechte Absichten hat oder aktiv etwas tut, um die Person zu verletzen.
Aber diese Erfahrungen können Muster aus der Vergangenheit verstärken und wir verpassen eine Möglichkeit für echte  Heilung und Veränderung.

Für den Rest dieses Artikels wollen wir untersuchen, WIE diese Retraumatisierung passieren kann. Dafür nehmen wir eine eher „technische“ Perspektive ein, um basierend darauf dann klarer zu erkennen, was in solchen Situationen helfen kann (lies dafür auch diesen Artikel)

For the remainder of this article we want to look into HOW this happens. We take a quite technical perspective on what retraumatization is, so we can understand it more deeply and then explore (also in our next article) what we can do to support healing in exactly these moments. 

Wie kann das in Körperarbeit passieren?

Wie dies in einer Körperarbeits-Behandlung passieren kann, möchten wir anhand eines ganz einfachen Beispiels erklären:

Beispiel-Sequenz: Behandlung mit Klient (30 Jahre) mit Nackenproblemen

Ausgangslage: Der Klient kommt mit wiederkehrender Spannung im Nacken. Körperhaltung: hochgezogene Schulter, nach vorne geschobener Kopf. Er klagt zusätzlich über Schlafprobleme, Verdauungsprobleme und häufige Kopfschmerzen.

In der Behandlung gibt es folgende Sequenz:

  1. Die Behandlerin massiert den Nacken.
  2. Dabei spannt der Klient die Nackenmuskulatur plötzlich stark an, öffnet die Augen und blickt sich unruhig um.
  3. Die Behandlerin sagt daraufhin „Lass mal locker!“ und macht mit stärkerer Intensität weiter.
  4. Der Klient lässt plötzlich nach und schläft sogar ein.
  5. Auf Nachfragen am Ende der Behandlung gibt der Klient nur unspezifische Antworten: „Alles OK.“

Es braucht nicht mehr als das, damit eine Retraumatisierung stattfinden kann – und nicht jede Nackenmassage muss traumatisch enden.

Um zu verstehen, WIE diese Sequenz retraumatisieren kann, wollen wir 3 Beispiele besprechen: 

Fallbeispiel 1: Klient mit Nackenproblemen ohne Trauma 

Wenn die Spannung von Klient 1 keinen traumatischen Ursprung hat, sondern z.B. nur eine Angewohnheit ist, kann diese Behandlung ganz unkompliziert sein. Der Klient spannt an, weil er das gewöhnt ist. Er blickt sich um, weil die Behandlung in dem Moment weh tut.

Auf das Feedback der Behandlerin kann er bemerken, dass er anspannt, locker lassen und sich dadurch tief entspannen. Sein Einschlafen passiert danach in Etappen und ist erholsam für ihn.

Wenn das der Ablauf ist, wäre die Behandlung gut verlaufen. Die unspezifischen Antworten am Ende der Behandlung sind Ausdruck der Entspannung und Schlaftrunkenheit des Klienten.

Nach der Behandlung sollten sich Haltung, Spannungsmuster und Schmerzen des Klienten positiv verändern.

Fallbeispiel 2: Klient mit Nackenproblemen und Schock-Trauma 

Bei einem Klienten mit Schock-Trauma würde der Verlauf der Behandlung aber für ganz andere Vorgänge sprechen. Dann ist es auch normal, dass nach der Behandlung die gleichen Symptome, sprich Spannungen und Kopfschmerzen, in der selben Intensität wie zuvor oder noch stärker aufkommen.  

Klient 2 hatte 12 Monate vor der Behandlung einen Fahrradunfall bei welchem er mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Die Untersuchungen haben keine strukturellen Schäden gezeigt. Der Klient konnte den Schock und die Angst dieses Unfalls aber damals nicht verarbeiten – sie blieb ihm im Nacken stecken.
Die Symptome haben sich in den Monaten danach langsam eingestellt; das passiert ziemlich häufig bei Schock-Traumata. Deswegen bringt dieser Klient die Schmerzen und den Unfall auch nicht miteinander in Verbindung.
Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme, Schlafprobleme sind aber alles Anzeichen und Folgen einer chronischen Aktivierung des sympathischen Nervensystems – sprich des Traumas.

Während der Behandlung des Nackens wird diese Ladung des Nervensystems wieder „aktiviert“, weil die Behandlerin den Nacken in die gleiche Position bringt, wie er während des Unfalls war. Deswegen zeigt das Nervensystem die selbe Reaktion wie damals: Angst, Anspannung, Muskelkontraktion. Dies passiert so schnell und unerwartet, dass der Klient damit nicht gut umgehen kann.

Die Anspannung und das Umblicken sind Ausdruck der Aktivierung im Nervensystem.

An diesem Punkt wäre es möglich, dass der Klient mit Hilfe einer traumasensitiven Behandlerin mit dieser Anspannung arbeiten kann, um eine nachhaltige Veränderung zu bewirken.

Aber in diesem Beispiel arbeitet sie nur gegen die Muskelspannung, den Schutzmechanismus, an. Das „Lass mal locker!“ gibt dem Klienten keine gute Möglichkeit mit der Anspannung umzugehen, sie zu entladen oder erweckt vielleicht den Eindruck daran sei etwas flasch. Dadurch bleibt die Aktivierung im Körper und Nervensystem des Klienten, wahrscheinlich verstärkt sie sich sogar, da der Klient nicht weiß wie er locker lassen kann.

Dann ist das Erschlaffen und plötzliche „Einschlafen“ des Klienten keine Anzeichen für Entspannung. Sondern er kollabiert und geht in den Freeze (mit höhrer Aktivierung, was von außen oft „entspannt“ aussieht, es aber nicht ist). Der Klient nutzt damit den ältesten Überlebensmodus unseres Körpers, das Totstellen, weil er in dieser Situation keinen anderen Umgang damit findet.

Zusammenfassend

  • Das Trauma des Klienten wurde durch die Nackenmassage wieder aktiviert
  • Das Nervensystem zeigte die gleiche Überlebensreaktion wie während des Unfalls
  • In der Behandlung konnte der Klient damit wieder keinen neuen Umgang finden, sondern der einzige Ausweg war das „totstellen“.
  • Dadurch nimmt die Anspannung des Systems sogar zu, auch wenn es nach außen aussieht, als würde der Klient „locker lassen“.

Deswegen ist es auch normal, dass nach der Behandlung, wenn wieder mehr Fühlen einsetzt, die gleichen Symptome weiterhin vorhanden sind oder noch stärker auftreten: Wenn das Schock-Trauma sich nicht entladen kann, wird es nur aufgefrischt und verfestig, so dass es weiterhin die gleichen Probleme verursacht.

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Fallbeispiel 3: Klient mit Nackenproblemen und Entwicklungstrauma 

Im Fall von Entwicklungstrauma kommt noch eine zusätzliche Ebene hinzu, denn hier geht es um die Selbst-, Weltbilder und Überlebensstrategien von Menschen.

Klient 3 ist in einer Familie aufgewachsen, in der er sich auf niemanden verlassen konnte: Hinter seinem Rücken wurden Absprachen immer wieder gebrochen und seine Grenzen übergangen. Daraus hat er die Überzeugung entwickelt, dass er niemandem vertrauen kann, sondern alles alleine schaffen muss. Seine Körperhaltung (hochgezogene Schultern, Schutz des Herzens) ist ein Ausdruck davon.

Die Behandlerin arbeitet stehend am Nacken des liegenden Klienten. Sie greift kräftig in die Muskulatur und mobilisiert seine Halswirbelsäule. Der Klient fühlt sich unterlegen, etwas ausgeliefert, dies triggert sein Schutzbedürfnis – körperlich, emotional und sogar sozial-beziehungsmäßig.

Deswegen spannt der Klient an: Er hat unbewusst Angst, übergangen und verletzt zu werden, so dass er versucht sich zu schützen. Auch wenn der Klient es nicht explizit ausspricht, versucht der Körper eine Grenze zu setzen. „STOP!“
Wenn diese Grenze als solche wahrgenommen wird, können der Klient und die Behandlerin eine Vertrauensbasis schaffen.

Das „Lass mal locker!“ der Behandlung schlägt allerdings in genau dieselbe Kerbe, die der Klient schon kennt: Seine Grenzen werden nicht wahrgenommen und geachtet, so kann er der Therapeutin nicht vertrauen. Es fühlt sich für ihn so an, als würde er „runter gemacht“, abgewertet, dafür dass er sich schüzt.
Das Erschlaffen ist dann die Strategie, die er schon in der Kindheit genutzt hat, wenn er in solchen Situationen war: Aufgeben und warten, bis die Situation zu Ende ist – neurophysiologisch ist auch das mit einem Freeze gleichzusetzen.

Nach der Behandlung werden Spannung und Schmerzen noch stärker, zusammen mit dem Entschluss, nie wieder zu einer Massage zu gehen, sondern sich alleine um diese Probleme kümmern zu müssen. Sprich: die Identifikation und damit das Trauma der Vergangenheit werden verstärkt.

Zusammenfassend:

  • Die körperliche Haltung des Klienten ist Ausdruck einer Grundhaltung im Leben
  • Die Anspannung ist der Versuch des Körpers sich zu schützen, 
  • Indem die Therapeutin diesen Versuch nicht erkennt und wertschätz, wird das gleiche Muster der Kindheit wiederholt und verstärkt

Durch diese retraumatisierende Behandlung wird verstärkt: 

  • Selbstbild – ich bin ausgeliefert und werde übergangen
  • Weltbild – die Welt ist ein unsicherer Ort
  • Überlebensstategie – ich kann niemandem vertrauen 

 

Was können wir tun, um das zu vermeiden?

Was wir dann tun können, haben wir genauer in DIESEM Artikel formuliert. Hier nur ein paar kurze Gedanken:

Schritt 1: Erkennen, wann ein Trauma im Klienten aktiviert wird

Wir müssen erkennen was gerade geschieht, damit wir damit umgehen können. Das heißt für uns: die emotionalen und vegetativen Anzeichen von Trauma mitzubekommen und richtig einordnen zu können.
Denn nur so können wir uns als Therapeut sicher sein, dass wir die Momente in denen ein Trauma aktiviert wird nicht übersehen. Denn egal wo wir am Körper arbeiten, arbeiten wir immer auch am Nervensystem, wo alte Traumata gespeichert sind.

Schritt 2: Den Klienten dabei unterstützen Hier und Jetzt eine neue (andere) Erfahrung zu machen

Damit er nicht das Gleiche wieder erlebt, sondern mit den Emotionen und Impulsen anders umgehen kann.

  • Für Schock-Trauma heißt das besonders, dass wir die Klienten dabei untersützen die alte Aktivierung SICHER zu entladen und neu zu orientieren.
  • Für Entwicklungs-Trauma heißt es,  den Klienten dabei unterstützt die alte Überlebens-Strategie zu wertschätzen und gleichzeitig zu überprüfen, ob sie noch notwendig und hilfreich ist.
 

Was ist Schock-Trauma?

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